Als autopoietische Obstfliege in die Zukunft, Galerie Kleindienst Leipzig, 2020
Das Wissen um die selbsterhaltenden Lebenskräfte (Autopoiesis) einer Obstfliege in der Zukunft ist für den Künstler Benjamin Dittrich womöglich und für den Autor auf alle Fälle vollständig unbekannt. Dafür aber zweifellos im Bereich der Kunst: Dittrich lotet seit längerem aus, welche Wirklichkeitsformen von der Welt existieren und wie gut das Medium Malerei diese repräsentieren kann. Und indem er dies tut, löst er in der Malerei zugleich die ihr zugrunde liegende automatische Selbstorganisation zur Formbildung aus. Zweifellos sind es mal schwache, mal gewaltige Impulse die Dittrich, ohne es im Voraus einschätzen zu können, durch den kreativen Akt in das System Kunst induziert.
Anschauung um dieses Bildwissen bietet seine neue 2019/20 entstandene Werkgruppe, die nun erstmals in der Galerie Kleindienst der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Die farbenprächtigen Gemälde zeichnen sich durch eine äußerst komplexe Formensprache aus und mögen als Gesamteindruck beim Betrachter Abstraktes präsentieren, an manchen Stellen bisweilen auch Figuratives suggerieren und an kunsthistorische Vorbilder der klassischen Moderne erinnern. Dieses altbekannte Wechselspiel der Malerei ist aber höchstens Nebenprodukt und nicht das zentrale Anliegen des Künstlers. Dittrich verhandelt in seiner Malerei eine Form von Wirklichkeit, die außerhalb des Gesichtsinns liegt. Er operiert mit Wissenschaftsbildern.
Die Erforschung der Wirklichkeit, ob im Makro- oder Mikrokosmos, ist längst in Phänomenbereiche vorgestoßen, die trotz optischer Hilfsmittel für das Auge zu klein oder zu weit weg sind. Dabei stoßen die entsprechenden sprachlichen Beschreibungsversuche an die kognitiven Verstandesgrenzen, sodass Bilder als grafische Erklärungsmodelle von Dingen bemüht werden, die eigentlich nicht sichtbar gemacht werden können. Diese vermeintliche Vorrangstellung des Bildes gegenüber dem Sprachzeichen in der Wirklichkeitsvermittlung – iconic turn – wird in dem Maße zunehmen, wie die Wissenschaft Erkenntnisbereiche untersucht, von denen sie glaubt, dass Sprache nur unzureichend den Sachverhalt transportieren kann und im Gegenzug der Leistungsfähigkeit von Bildern mehr Vertrauen schenkt.
Bilder helfen den Sinn der geschriebenen Sprache besser zu verstehen. An dieser wichtigen Schnittstelle von Text erklärenden Bildern und Inhalt vorgebenden Texten nehmen die Gemälde Dittrichs ihren Ausgang. Die mit Öl bemalten Leinwände geben mehrere, übereinander gelagerte und sich durchdringende Wissenschaftsbilder aus ein und derselben Sachbuchquelle wieder: Erich Jantsch, Die Selbstorganisation des Universums. Vom Urknall zum menschlichen Geist. Die entnommenen Vorlagen werden aber nicht nur durch den kreativen Akt des Künstlers verändert, sondern auch ihrer vorhandenen Kommentierung, wie Bezeichnungen, Legenden und Bildunterschriften, beraubt. Wenn es gemeinhin heißt, dass die zeitgenössische Kunst kommentierungswürdig ist, stellt sich bei den Gemälden Dittrichs die Frage, wie man mit seinen Bildern umgeht, deren ursprüngliche Kommentierung zerstört worden ist. Was übrig bleibt sind vom Text befreite grafische Kompositionsstrukturen, die mit Farbe malerisch ausgefüllt werden. Man könnte auch von Bildräumen sprechen, deren einstige Kommunikationsbereitschaft Dittrich durch den Farbauftrag zum Schweigen gebracht hat. Dittrich ein Bilderstürmer? Immerhin dekonstruiert er den vorhandenen Sinn seiner Bildquellen zugunsten einer ästhetischen Formen- und Farbenautonomie und wird gerade dadurch wieder ganz zum Bilderschöpfer. Wenn man dem Titel des Buches vertrauen darf, aus dem die Bildvorlagen stammen, so organisiert sich das Universum vom Urknall bis zum menschlichen Geist selbst. Im Umkehrschluss möchte man meinen, Dittrich vertraut den selbstorganisierenden Kräften der Malerei, neue Wirklichkeiten zu schaffen.
Marcus Andrew Hurttig (Kurator, Museum der bildenden Künste, Leipzig), 2020
Katalogtext zu Jetzt! – Junge Malerei in Deutschland, Hirmer Verlag 2019
Was hat man eigentlich vor sich? Die grundlegende Frage jeder Kunstbetrachtung stellt sich bei den Werken Benjamin Dittrichs mit jedem Blick aufs Neue. Entfernte Erinnerungen an alte Fernseh-Testbilder werden wach, Reminiszenzen an klassische Science-Fiction-Plakate und computereske Retro-Fantasien, Ahnungen technoider Schaltkreiswelten und physikalischer Kosmologien. Es ist nicht zuletzt die Formsprache abstrakter moderner Kunst, die geheimnisvoll wie strukturiert in diesen künstlerischen Paralleluniversen aufblitzt.
Doch Dittrich lässt uns nicht im Ungewissen, braucht keine nebulöse Esoterik. Seine Kunst ist ein Forschen, ein Bilder-Machen im wörtlichen Sinne. Das, was die Naturwissenschaften einst als Visualisierung Jahrtausende währender Welt-Prozesse schufen – Tabellen, Spektren, Wellen – wird des Inhalts und Sinns entledigt, entkernt und neu aufgefüllt. Die Essenz der Wissens- und Informationsgesellschaft liegt fragmentarisch, gleichsam nackt vor uns, seltsam vertraut und fremd zugleich. So wird zur codierten grafischen und geometrischen Form, zur künstlerischen Komposition, was einst Anspruch auf allumfassende Weltdarstellung erhob.
Mit der Offenlegung seiner Quellen – oft inhaltlich überholte Enzyklopädien und naturwissenschaftliche Sammelwerke früherer Tage – gelingt Dittrich eine gewagte, folgerichtige Wendung: Das dialektische Verhältnis von Kunst und Welt, von menschlicher Schöpfung und angeblich objektiver Wissenschaft tritt blank zutage. Die in Stil und Design ihrer Zeit verhafteten Abstraktionen in Darstellungen von Natur und Physik geraten zur kontingenten Kulturtechnik, die in den Akten des Vereinfachens, Anordnens und Verknüpfens die Existenz des wissenschaftlichen Gegenstandes erst hervorbringt. Indem er die vorhandenen Fragmente jener Weltdeutungen spielerisch, ohne Anspruch auf strenge Konzeptkunst, wie ein Puzzle neu arrangiert und in Beziehung setzt, lässt uns Dittrich ihr fragiles Innerstes betrachten – und erschafft damit Zugang zu einer neuen Welt.
Maximilian Haase
Dünner Pelz, Galerie b2_ Leipzig, 2018
»Die Welt in der wir leben«
ist eines der Bücher, aus denen Benjamin Dittrich seine Bilderwelten entwickelt. Es ist eine enzyklopädisch angelegte Publikation, die 1955 zum ersten Mal in deutscher Übersetzung erscheint und seitdem in vielfacher Auflage zwei Botschaften im Titel transportiert: Es ist EINE Welt, in der WIR alle leben. So einnehmend diese Formulierung wirkt, beschreibt sie zugleich ein Dilemma, das die kunstwissenschaftliche Forschung zum technischen Bild in den letzten Jahrzehnten vielfach bearbeitet hat: Es gibt nicht nur eine Perspektive auf die Welt. Darstellungen von biologischen, evolutionären Prozessen, physikalischen oder mechanischen Reaktionen können nicht objektiv sein. Wie alle Bilder erzeugen sie den Sinn, den sie illustrieren, auch selbst.
Benjamin Dittrich nähert sich den Illustrationen schwärmerisch, er holt sie aus den Büchern heraus, entfernt die schriftlichen Erklärungen und konzentriert sich auf visuelle Symbole und ihre Beziehungen, auf Farbinszenierungen und Komposition. Er ist damit im klassischen Feld der Malerei und es wundert nicht, dass seine Gemälde und Grafiken eine hohe ästhetische Attraktivität entfalten. Aber es gibt einen irritierenden Unterton. Denn der Ursprung der Motive, das technische Bild, ist stets präsent und tritt in Konkurrenz zur gemalten Fassung. Hier steigen quasi zwei entgegengesetzte Konzepte zur Erkenntnisgewinnung gemeinsam in den Ring: sachliche Illustrationen versus prozessorientierte und ergebnisoffene Malerei. Und eine Erkenntnis setzt sich dabei durch: Das weder Bilder noch Gedanken objektiv sein können.
Matilda Felix
Lokaler Superhaufen, Galerie b2_ Leipzig, 2016
»This is a present from a small distant world, a token of our sounds,
our science, our images, our music, our thoughts and our feelings.
We are attempting to survive our time so we may live into yours.«
Botschaft auf der Voyager Golden Record, 1977
»Interstellare Archäologen«
Botschaften vom Ereignishorizont des Wissens
Der erste Eindruck sei entscheidend, heißt es. Im Falle außerirdischer Wesen, die eines Tages von der Existenz der Menschheit erführen, könnte er von Goldenen Schallplatten ausgehen: 1977 sandte die NASA an Bord der Raumsonden Voyager 1 und 2 goldglänzende, kreisrunde und mit Audio- und Bildinformationen beschriebene Datenträger ins All, damit sie einst Zeugnis von unserer Spezies ablägen. Von unserem Planeten, unserer Kultur, unserer Sprache, unseren Lebenswelten und unserer Wissenschaft. Nicht indes von unseren Kriegen und Verbrechen, von unseren Ideologien und Selbstzerstörungen. Ein verzerrtes Idealbild.
Der erste Eindruck zählt — als Mörder und Ausbeuter wollen wir nicht gelten. Vielmehr als Kulturwesen und Wissenswesen, selbstreflektiert, empathisch und aufgeklärt. Als Entdecker und Forscher. Bereits fünf Jahre vor der Voyager schickten die Wissenschaftler um Carl Sagan an Bord der Pioneer-Sonden Plaketten auf die endlose Reise. Die darin eingravierte Botschaft zeigte neben einer seinerzeit umstrittenen Darstellung von Mann und Frau insbesondere naturwissenschaftliche Symbolik: die relative Position der Sonne zum Milchstraßenzentrum, ein Schema unseres Sonnensystems, die Hyperfeinstruktur des Wasserstoffatoms. Universelles Wissen für das Universum.
Weiter als die Voyager- und Pioneer-Sonden drang kein Gegenstand menschlicher Schöpfung je vor; über 20 Milliarden Kilometer von der Sonne entfernt, durchquert die Voyager 1 inzwischen den interstellaren Raum — die unendlichen Weiten, wie es uns die Popkultur auszudrücken lehrte. Trotz jahrzehntelanger Ambitionen der Populärwissenschaft und Science Fiction, den westlichen Menschen an die Unendlichkeit heranzuführen, bleiben die Dimensionen kaum fassbar: Bevor ihr Haltbarkeitsdatum abläuft, passiert die Sonde noch 500 Millionen Jahre lang die gigantische Leere zwischen planetarischen Nebeln und Dunkelwolken, zwischen interstellarem Staub und Supernovaüberresten. In 38.000 Jahren nähert sie sich im Abstand von 1,7 Lichtjahren erstmals einem Stern, genannt AC+793888, gelegen im Sternbild Kleiner Bär.
Eine Vorstellung, so unwahrscheinlich wie reizend: Die Sonde würde einst gefunden und aufgelesen von extraterrestrischen Wesen, ihrerseits aufgebrochen möglicherweise von ihrem Heimatplaneten im Lokalen Superhaufen, der mit seinem Durchmesser von 200 Millionen Lichtjahren 2.000 Galaxien wie die unsere beherbergt. Aufgebrochen, um fremde Galaxien zu erforschen, neues Leben und neue Zivilisationen. Die menschliche existierte zu jenem Zeitpunkt wohl nicht mehr. Sie dennoch kennenzulernen, hieße, sich ihr Wesen über Relikte zu erschließen, gleichsam als interstellarer Archäologe. Der erste Eindruck vom Menschen: Ein Symbolwesen, ein Forscherwesen.
Doch wie universell ist die symbolische Darstellung eines Atoms? Wie galaxienübergreifend das Verständnis mathematischer, physikalischer, chemischer Zeichen und Schemata? Eines Kreises, einer Wellenlänge, gar einer Umlaufbahn oder eines Planeten? Wie fragil ist unser über Jahrtausende angehäuftes Wissen angesichts der Unendlichkeit des Kosmos? Wie anthropozentrisch unsere Naturwissenschaft, ganz zu schweigen von der Struktur unserer Sprache? Werden unsere unbewussten und intendierten Überlieferungen als Botschaften verstanden? Drücken sich Psychologie, Geschichte, Vernunft und der Mangel daran in bruchstückhaften Überbleibseln aus?
Was der Mensch in seiner Bearbeitung der Welt an Erfahrung sich aneignete, was er sich als Wissen mühsam erschloss und herstellte, was er schließlich kategorisierte und katalogisierte, in Enzyklopädien und Lexika als Kanon zwischen Buchdeckel presste; was er gegen den selbstgeschaffenen Mythos und die Religionen verteidigen musste und zugleich zur Vorbereitung von Barbarei, Vernichtung und Zerstörung nutzte; was sich in Emanzipation und Gegenaufklärung gleichermaßen ausdrückte, sich schließlich in Expertenwissen partikularisierte, um letztlich dekonstruiert und abermals hinterfragt zu werden: Was, wenn auch diese Dekadenz des Wissens sich restlos auflöste? Zum rein symbolischen Schwirren im Raum geriete, zur sinnlosen Variation von Aussagen, zum gänzlich ästhetischen Baukasten aus Formen?
Jene humane Angst vor dem Zerfall, die immer existierte, bleibt dem neugierigen Betrachter von außen erspart. Fürchtete das menschliche selbst- ernannte Universalgenie die Vereinzelung der Wissenskulturen, ängstigte die Naturwissenschaftler die immer drohende Widerlegung ihrer Thesen und die Kanonbündler die freie Aneignung, Zugänglichkeit und Produktion des Weltwissens, stieße der Bewohner des Lokalen Superhaufens, der menschlichen Sprachen und Schriftkultur nicht mächtig, auf ein schier unendliches Konglomerat an Zeichen und Symbolen, Diagrammen und Schemata, Bildern und Skizzen. Die für die menschliche Kultur nach der Aufklärung erst seit wenigen Jahrhunderten essenzielle Trennung und Ordnung der Diskurse in Kunst und Wissenschaft wäre ihm fremd und gleichgültig. Entsprechende Wahrnehmungsgabe und Stofflichkeit vorausgesetzt: Das bildhafte Material der Menschheit gälte ihm als unbekannter Spielplatz, auf dem er sich aus- toben könnte, um die symbolhaften Ingredienzien humanen Wissens neu zusammenzufügen.
Was, wenn der mühevoll erschlossene, ausgearbeitete, überarbeitete, diskutierte, verworfene, immer wieder neu aufgefächerte und bisweilen auch tödliche Wissenskosmos der Menschen im Blick des Lokalen-Superhaufen-Einwohners seine Sinnhaftigkeit verlöre? Ohne Schrift und Sprache erschlössen sich Bedeutungen, der Wahrnehmung eines Kindes gleich, immer wieder neu. Die sich bietenden Weltartefakte würden wieder und wieder kombiniert; einem auseinandergenommenen Uhrwerk ähnelnd, das anders zusammengebaut lediglich ein Uhrwerk zu sein scheint, aber keines ist: In der Nachahmung liegt der Versuch, sich eine fremde Welt zu erschließen. Träte dann das Wesen menschlicher Kultur und Wissenschaft in seiner Dialektik, seinen Ambivalenzen und Kontingenzen gleichsam von selbst zutage? Wie inhärent wäre den Zeugnissen menschlichen Forschens, Schöpfens und Wirtschaftens die Anfälligkeit für regressive Mythen, verdinglichtes Denken und ideologische Gesellschaftsformen?
Wo der Mensch die Welt einst zu entzaubern gedachte, würde sie durch die Neuanordnung seiner Relikte wieder verzaubert. In Benjamin Dittrichs Ausstellung „Lokaler Superhaufen“ findet sich jener aufgeklärte Zauber wieder, der dem Blick des außerirdischen Anthropologen wohl nahekäme. In einem Nichtbegreifen und Nichtzufassenkriegen offenbart sich ein spielerischer Umgang mit den Splittern der (Natur-)Wissenschaften, ein ironisches Aneignen ihrer Logik und ihres Ethos. Einst dazu angetreten, unsere Existenz und Endlichkeit zu fassen zu bekommen, entpuppten sie sich zugleich in ihrer Vereinzelung als ebenso nützlicher wie latent bedrohlicher Kult. Was passiert am Ereignishorizont, an den sich au ösenden Rändern dieses auf Rationalität und intersubjektiver Nachvollziehbarkeit basierenden Wissens mit dessen Symbolen? Was geschieht dort, wo durch Verschieben der alten Zeichen umfassender Gelehrtheit neue Bedeutung generiert wird; wo abseits jeder Gottesfurcht und Wissenschaftsgläubigkeit, abseits von Herrschaftswissen und ökonomischer Nutzbarmachung die Faszination für das Unendliche sich Bahn bricht?
Schließlich wieder: Was geschähe nach dem Ende der menschlichen Existenz, wenn der erste Eindruck der Goldenen Platten der Voyagers und Pioneers fremden Wesen den Weg zur menschenverlassenen Erde wiese; was geschähe mit unseren Symbolen und Sprachen, unseren Büchern und Bibliotheken, unseren Wissenssammlungen und Weltenzyklopädien? Vielleicht, so stellt es sich der humanistisch geprägte Mensch vor, würden sie als Kunst-Relikte bewundert und gedeutet werden, von rätselnden Zuschauern irgendwo inmitten des Lokalen Superhaufens.
Maximilian Haase